Philosophisches Café „Lust am Denken“ am 7.2.2015 im Heimathafen (Wiesbaden)
Referat von Christian Rabanus
Als ich neulich dem Buchladen meines Vertrauens im Dichterviertel einen Besuch abstattete, fiel mir am Tresen ein kleines Buch mit dem Titel „Von der Nützlichkeit des Unnützen“ von Nuccio Ordine in die Hände. Ordine, ein italienischer Literaturwissenschaftler, druckt als Anhang zu seinem Buch einen Aufsatz von Abraham Flexner mit dem Titel „Die Nützlichkeit unnützen Wissens“ ab. Ich zitiere daraus:
„Ist es nicht kurios, dass in einer Welt, die von irrationalen, ja zivilisationsbedrohenden Hassgefühlen überrollt wird, Männer und Frauen, alte und junge, sich ganz oder teilweise aus dem tosenden Strom des Alltagslebens herausziehen und sich der Pflege des Schönen, der Erweiterung des Wissens, der Heilung von Krankheit und der Linderung von Leiden widmen, ungeachtet dessen, dass Fanatiker gleichzeitig Schmerz, Hässlichkeit und Leiden verbreiten? Die Welt ist schon immer ein trister und verworrener Ort gewesen – aber dennoch haben Dichter, Künstler und Wissenschaftler sich über die Umstände hinweggesetzt, die sie, wenn sie darauf achtgäben, lähmen würden. In praktischer Hinsicht und oberflächlich betrachtet, ist das intellektuelle und geistige Leben eine unnütze Tätigkeit, der die Menschen nachgehen, weil sie daraus eine größere Befriedigung ziehen, als anderweitig für sie zu erlangen wäre. […] Bis zum Überdruss bekommen wir immer wieder gesagt, dass wir in einer materialistischen Epoche leben, deren Hauptbesorgnis eigentlich die breitere Verteilung von Chancen und materiellen Gütern sein sollte. Der berechtige Aufschrei derer, denen Chancen und eine gerechte Teilhabe an materiellen Gütern ohne eigenes Verschulden verwehrt bleiben, bringt eine wachsende Zahl von Studenten von den Studiengebieten ihrer Väter ab und führt sie zu der gleichfalls wichtigen und nicht weniger dringlichen Auseinandersetzung mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen. Gegen diese Tendenzen habe ich nichts einzuwenden. Die Welt, in der wir leben, ist die einzige, die wir mit unseren Sinnen bezeugen können. Wenn es uns nicht gelingt, sie zu einer besseren, einer gerechteren Welt zu machen, werden Millionen von Menschen weiterhin stumm, bekümmert und verbittert ins Grab gehen. Ich selbst habe viele Jahre lang dafür plädiert, dass unsere Schulen sich klarer bewusst machen sollten, in welcher Welt ihre Schüler und Studenten ihr Leben werden verbringen müssen. Nun frage ich mich manchmal, ob diese Strömung nicht zu stark geworden ist und ob es ausreichend Gelegenheit zu einem erfüllten Leben gäbe, wenn die Welt sich einiger der unnützen Dinge, die ihr aber geistige Bedeutung geben, entledigte; mit anderen Worten: ob unsere Auffassung davon, was nützlich sei, nicht vielleicht zu eng geworden ist, um dem Schweifen und den unberechenbaren Möglichkeiten des menschlichen Geistes gerecht zu werden.“ (Abraham Flexner: Die Nützlichkeit unnützen Wissens. In: Nuccio Ordine: Von der Nützlichkeit des Unnützen. Berlin 2014, S. 212 f.)
Wenn man diese Zeilen hört, könnte man meinen, es mit einem aktuellen Text zu tun zu haben – doch der amerikanische Pädagoge Abraham Flexner starb bereits 1959. Der Aufsatz, aus dem ich zitiert habe, stammt aus dem Jahr 1939, er stammt also aus einer Zeit, in der die abendländische Katastrophe des Zweiten Weltkriegs immer mehr Grauen über die Welt brachte und in der die von Flexner benannte „Kuriosität“, dass trotz allem Dichter und Denker sich der Neugier, der Kreativität, dem – um Kants Worte zu verwenden – „freien Spiel der Einbildungskraft“ (KdU §51) überließen, was dem auf allen Konfliktseiten vorherrschenden gesellschaftlichen Zwang diametral entgegen lief, sich tatkräftig für die Unterstützung der je eigenen Sache einzusetzen. Wer sich nicht „kriegswichtig“ und damit der Sache des eigenen Volkes nützend betätigte, lief schnell Gefahr, sich des Vorwurfs des Drückbergertums oder gar des Vaterlandsverrats auszusetzen.
Für die Philosophie ist diese dilemmatische Situation nicht neu. Die Philosophie sah sich in ihrer Geschichte von Beginn an mit dem Vorwurf konfrontiert, zumindest unnütz, sinnlos und überflüssig, wenn nicht gar nur zu Schwätzerei verführend und damit verderblich und zersetzend zu sein. Schon in den Dialogen Platons steht die Frage nach Sinn und Zweck der geistigen Beschäftigung z.B. im Rahmen der Erziehung oder auch als ehrenvolle Tätigkeit für erwachsene Männer immer wieder im Mittelpunkt – angesprochen von Sokrates, der den Tätigkeiten, die da als sinnvoll für verantwortliche Menschen erwogen werden – z.B. ein tapferer Kämpfer zu werden oder ein Amt im Staat zu übernehmen – nicht nachging. So war es Sokrates Ehefrau Xanthippe, der deshalb das Los zufiel, in die Geschichte als streitsüchtige Matrone einzugehen: Soweit sie in den überlieferten Texten auftaucht (vgl. Xenophon: Gastmahl, 2. Gespräch des Sokrates mit Antisthenes, 10), dann in der Regel in der Rolle der missmutigen Ehefrau, die immer wieder über den Müßiggang und Schlendrian ihres Mannes schimpft, der lieber mit Jünglingen diskutiert als ihr bei der Aufrechterhaltung und Pflege des Hausstandes zu helfen oder gar einem bürgerlichen Beruf nachzugehen. Zwar gibt es in den verfügbaren Quellen spärliche Hinweise darauf, dass der junge Sokrates als Bildhauer gearbeitet hat (vgl. Diogenes Laertius: Von den Leben und den Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen von Dr. C. Aug. Borheck. Zwei Bände, Wien und Prag: Franz Haas, 1807, erster Band, zweites Buch, fünftes Kapitel, S. 111) – was auch schon in der Antike nicht das Paradebeispiel eines „ordentlichen“ Berufs war –, allerdings kann er diesem Beruf nicht lang nachgegangen sein, da sich in den Berichten seiner Schüler keine Aussage bzgl. seiner Berufstätigkeit findet. Zwar verstand sich Sokrates als eine Art Erzieher – nämlich als Erzieher des Geistes –, allerdings lehnte er es ab, dieser Tätigkeit gegen Bezahlung oder gar in Diensten von einzelnen Personen nachzugehen (wie dies die von ihm verspotteten Sophisten taten).
Aus lebenspraktischer Perspektive vermittelt sich bei Sokrates daher kein sehr positives Bild von Phiosophie.
Auch Karl Marx schreibt der Philosophie keine lebenspraktische Wirkung zu; seine elfte und letzte „These über Feuerbach“, die er alle 1845 erstmals zu Papier brachte und die sich großer Bekanntheit erfreut, lautet:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (Marx-Engels Werke, Band 3, Berlin 1969, S. 535)
Dieser vielzitierte Satz hat das gegenwärtig weit verbreitete Bild von Philosophie und den Philosophen stark beeinflusst: Philosophen gelten als Menschen, sich sich mit oft schwer durchschaubarem, zumeist weltfremden Themen beschäftigen und dabei trotz vielleicht zugebilligtem gutem Willen rein theoretisch bleiben. Letzteres wird dann in der Regel gleichgesetzt mit wirkungs- und nutzlos. Entweder ignoriert man solche komischen Kautze und ihre merkwürdigen Beschäftigungen kopfschüttelnd, oder aber man bekämpft ihr Tun mehr oder weniger offen als Verschwendung von Zeit und Geld – die zunehmende Unterfinanzierung der universitären Philosophie z.B. kommt einer solchen, verdeckten Bekämpfung gleich.
Nun darf bei allem problematischen Ruf der Philosophie natürlich auch nicht vergessen werden, dass es immer wieder Philosophen waren, die auf die Verantwortlichkeit des Individuums der Gesellschaft gegenüber hingewiesen und diese Verantwortlichkeit auch immer wieder gelebt haben:
Sokrates z.B. lehnte die nach seinem Todesurteil wegen angeblicher Verhetzung der Jugend und Lästerung der Götter von seinen Schülern vorbereitete Flucht mit der Begründung ab, dass er dadurch der Institution des Rechts und der griechischen Gesellschaft schaden würde. Platon, der wohl bekannteste Schüler von Sokrates, betonte in seinem Buch „Politeia“ die Verantwortung und sogar Pflicht der Philosophen, sich im Staatswesen aktiv zu betätigen – und landete bei dem wiederholten Versuch, seine Theorie in Sizilien als Berater des dortigen Herrschers umzusetzen, mehrfach im Kerker.
Ein paar Jahrhunderte später versuchte der römische Denker Seneca den tyrannischen Kaiser Nero durch Erziehung auf den rechten Pfad zu bringen. Zwar konnte er vor allem den jungen Nero von der einen oder anderen üblen Tat abbringen, fiel letztlich aber selbst in Ungnade und musste sich auf Neros Geheiß das Leben nehmen.
In der Neuzeit lassen sich eine Vielzahl Philosophen finden, die nicht zuletzt auch durch ihr politisches Engagement und die damit verbundenen persönlichen Nachteile und Risiken bekannt geworden sind:
- Bertrand Russell (1872-1970), einer der bekanntesten Vertreter des Rationalismus und Vorreiter der analytischen Philosophie, engagierte sich seit Beginn des ersten Weltkriegs für Frieden und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung; er wurde eine Leitfigur der pazifistischen Bewegung. Aufgrund seiner Überzeugungen und seines politischen Engagements musste er immer wieder Einschränkungen hinnehmen – so wurde ihm 1914 seine Dozentur an der Universität Cambridge entzogen und eine bereits ausgesprochene Berufung auf eine Professur an die Universität von New York wurde 1940 aufgrund seiner liberaler Einstellung zu Ehe und Homosexualität wieder zurück genommen.
- Der tschechische Philosoph Jan Patočka (1907-1977) war einer der Erstunterzeichner der Charta 77 und setzte sich damit wissentlich den Repressionen des kommunistischen Regimes der damaligen Tschechoslowakei aus. Patočka, der unter anderem der geistige Mentor des späteren tschechischen Präsidenten Vaclav Havel war, starb 1977 infolge einer der wiederholten Verhöre der tschechischen Geheimpolizei.
- Hannah Arendt (1906-1975) forschte intensiv über Totalitarismus, veröffentlichte darüber 1951 ein auch außerhalb der Fachphilosophie viel beachtetes Buch und setzte sich anhand eines 1963 publizierten Berichts über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem kritisch mit der Pathologisierung der NS-Verbrecher auseinander. Dabei prägte sie den Begriff von der „Banalität des Bösen“ – wobei dieser Begriff in keiner Weise Eichmanns Taten verharmlosen sollte; vielmehr ging es Arendt darum, mit der Vorstellung aufzuräumen, dass das „Böse“ immer in schreckerregender, psychopathischer Gestalt einher kommen muss, bzw. von Individuen auszugehen hat, die diesen Stereotypen entsprechen. Arendt wurde aufgrund dieser Publikation intensiv angefeindet.
Doch der Hinweis auf diese Beispiele darf und soll nicht als billige Ausrede genommen werden, sich keine Gedanken mehr über das Tun und gesellschaftliche Wirken der Philosophie zu machen; es ist keineswegs so, dass diese und andere Bespiele als endgültiger Ausweis der gesellschaftlichen Relevanz der Philosophie ausreichen würde. Schließlich gibt es gerade innerhalb der Philosophie über weniges so viel Einigkeit wie über die Akzeptanz der Forderung, dass die Philosophen über ihre Thesen und Argumente, über ihr Tun und Lassen sich selbst, ihrem Umfeld und der Gesellschaft, in der sie leben, Rechenschaft ablegen können sollten.
Aber bevor nun gleich eine Vermutung über die Dimensionen der Nützlichkeit von Philosophie aufgestellt werden soll, sei vorweg noch auf zwei Aspekte hingewiesen, die im Zusammenhang mit der Frage nach der Nützlichkeit der Philosophie zu berücksichtigen sind:
- Nützlichkeit ist immer ein relativer Begriff. Nichts ist nützlich per se, sondern etwas ist immer nur nützlich im Hinblick auf etwas anderes. Wird der Nützlichkeitskontext verlassen, so zeigt sich das vormals Nützliche (z.B. der Hammer, mit dem man einen Nagel in die Wand schlagen kann) als gänzlich unnütz (wenn es z.B. darum geht, eine Sonate auf dem Klavier zu spielen). So ist dann auch die Frage nach der Nützlichkeit der Philosophie immer relativ zum Kontext zu sehen, in dem diese Frage gestellt wird. Für den Zimmermann in Ausübung seiner Tätigkeit hat Philosophie sicherlich keinen direkten Nutzen, für den Philosophieprofessor dagegen schon. So ist die Frage nach der Nützlichkeit an sich unterbestimmt: Erst wenn der Fragekontext bestimmt, bzw. bestimmbar ist, also wenn klar, wozu Philosophie nützlich sein sollte, kann dieser Frage sinnvoll nachgegangen werden.
- Nun steht im heutigen gesellschaftlichen Umfeld die Frage nach Nützlichkeit in der Regel im Kontext des materialistisch-utilitaristischen Paradigmas. Nützlich ist das, was gewinnmaximierend ist, was zumindest einen Beitrag zum Lebensunterhalt liefert. Nun stellt sich dann grundsätzlicher die Frage, was von der Entscheidung der Frage nach der Nützlichkeit von etwas – im speziellen: der Philosophie – im Bezugsrahmen des materialistisch-utilitaristischen Paradigmas überhaupt abhängt. Denn wieso aber sollte dieses Paradigma der Maßstab für die Frage nach der Berechtigung von etwas oder gar von allem sein? Vielleicht wäre unsere Gesellschaft und die Weltgesellschaft insgesamt in einem besseren Zustand, wenn das materialistisch-utilitaristische Paradigma nicht nahezu universelle Geltung hätte, sondern nur Richtschnur in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wäre – ganz im Sinne von Flexner, der ja beispielsweise auch die persönliche Befriedigung, die mit einer bestimmten Tätigkeit verbunden ist, als nutzbringend anerkannt wissen will.
Doch auch wenn man sich auf das materialistisch-utilitaristische Paradigma bezieht, ist es – im Anschluss an die philosophische Tradition – m.E. gut möglich, mindestens zwei verschiedene Dimensionen zu unterscheiden, in denen sich ganz konkret die Nützlichkeit der Philosophie auch in der heutigen Gesellschaft und im aktuell vorherrschenden gesellschaftlichen Paradigma entfaltet:
Das kleine Modell des Nutzens der Philosophie besteht darin, dass die philosophische Beschäftigung methodisch im Gebiet der Argumentation schult und inhaltlich Relevantes von Irrelevantem zu scheiden lehrt: Philosophie gilt aus die Reflexionswissenschaft schlechthin. Unabhängig davon, über was in der Philosophie geredet und gestritten wird – es wird geredet und gestritten. Es werden Argumente ausgetauscht, geprüft, widerlegt. Argumente werden vorgebracht und verworfen. Es wird differenziert und geklärt, wird unterschieden und ausgeschieden, es werden Standpunkte eingenommen und Standpunkte geräumt. Das alles geschieht manchmal leidenschaftlich und manchmal nüchtern – aber immer von Herzen und mit Ernst, mit Redlichkeit und Respekt, mit Lust und Freude. Bei aller Leidenschaftlichkeit der Diskussion, bei aller Unterschiedlichkeit der Standpunkte und bei allem Engagement der Diskutanten: Der philosophische Diskus zeichnet sich dadurch aus, dass er klar und deutlich in der Sache und gleichzeitig respektvoll und zugewandt in der persönlichen Beziehung ist. Es wird unterstellt, dass alle Diskutanten wahrhaftig sind, ihre Argumente und Überzeugungen ohne Hintergedanken vorbringen und nicht nach persönlicher Geltung und/oder Macht über den Diskurs und/oder die anderen streben; es liegt auf der Hand, dass das ein Ideal ist, aber als solches steht es als Leitidee des Umgangs miteinander im Hintergrund jeglicher philosophischer Diskussion. Damit schafft das Philosophieren eine Verbindung, die die Philosophierenden zu Schicksalsgenossen macht, die die Überzeugung eint, dass es sich lohnt, eine Auseinandersetzung im Rahmen der Vernunft, auf gleicher Augenhöhe, also auch ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Herkunft, auf Stand und Macht, und ohne Anwendung physischer oder psychischer Gewalt zu führen. Eine solche Auseinandersetzung, die in eins damit ein Zusammen-setzen ist, fördert nicht nur persönliche Einsichten, sondern das persönliche Wachstum. Karl Jaspers sprach gar von einem „liebenden Kampf“ (vgl. Karl Jaspers: Philosophie, Band 2: Existenzerhellung. München 1994, S. 65 ff.), der für ihn eine der wesentlichen Möglichkeiten war, sich selbst als Mensch in seiner Existenz zu verwirklichen.
Die Möglichkeit, sich in diesem Sinne frei auszutauschen und nahezu alles in Frage zu stellen, ist eine der fundamentalen und vielleicht am ehesten unterschätzten Errungenschaften unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft – und vielleicht auch eine der wenigen Errungenschaften, für die es sich wirklich lohnt, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Genau das ist es, was Evelyn Beatrice Hall in einem oft Voltaire zugeschriebenen Zitat über Voltaire in Bezug auf dessen Reaktion auf die Entscheidung des absolutistischen Ancieme Regines schrieb, das aufklärerisches Buch „De l‘esprit“ von Claude Adrien Helvetius 1758 nach bereits erteilter Druckgenehmigung doch noch zu zensieren:
„‚Ich stimme nicht mit dem überein, was Sie sagen – aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, dies zu sagen‘, war jetzt seine Einstellung.“ (Stephen G. Tallentyre (i.e. Evelyn Beatrice Hall): The Friends of Voltaire. London 1906, S. 199, meine Übersetzung)
Als Beispiel für den methodischen Nutzen der Philosophie kann der erste Teil von Karl Jaspers‘ Schrift „Die Schuldfrage“ (Heidelberg 1946) dienen, die aus einer unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs im Wintersemester 1945/46 an der Heidelberger Universität gehaltenen Vorlesungsreihe zur geistigen Situation in Deutschland hervorgegangen ist und 1946 veröffentlicht wurde. In dieser Schrift beschäftigt sich Jaspers – nicht zuletzt im Kontext der Vorbereitung der Nürberger Prozesse durch die Siegermächte – mit der Frage, welche Taten von welchen Akteuren in welchem Sinne als schuldbehaftet anzusehen sind. In dem ersten Teil seiner Schrift unterscheidet Jaspers vier Schuldbegriffe voneinander, die dann im weiteren Verlauf der Schrift als Basis für seine Überlegungen zur Frage nach der deutschen Kriegsschuld dienen (vgl. Karl Jaspers: Die Schuldfrage. München: 1965, S. 17 ff.):
- Kriminelle/juristische Schuld: Diese Schuld entsteht durch eine objektiv nachweisbare Handlung, die gegen geltendes Gesetz verstößt. Solche Schuld ist vor Gerichten zu verantworten, die nach geltenden Gesetzen und Rechtsgrundsätzen urteilen und eine individuelle Strafe für die begangene Tat festsetzen.
- Politische Schuld: Nach Jaspers begründet sich politische Schuld, bzw. politische Haftung aus der Zugehörigkeit zu einem Staatswesen. Sie wird verursacht durch die Handlungen der politischen Akteure, die diese qua Amt und Mandat durchführen. Rechenschaftspflichtig ist das Individuum bzgl. dieser Schuld vor einem innen- oder außenpolitischen Sieger, der die politische Schuldigen dann mit politischer Entmachtung, Entmündigung und/oder Entrechtung belegt. Insbesondere sah Jaspers nach dem Ende des zweiten Weltkriegs jeden Deutschen – sich selbst eingeschlossen – in diesem Sinne haftbar für die Verbrechen des NS-Regimes. In der aktuellen politischen Diskussion taucht dieser Schuldbegriff immer wieder als Begriff der „politischen Verantwortung“ auf, die zu übernehmen gerne z.B. von einem Minister gefordert wird, wenn in seinem Apparat durchaus ohne Wissen der „politisch verantwortlichen“ Person politische Verfehlungen oder gar justiziable Handlungen geschehen.
- Moralische Schuld: Moralische Schuld basiert auf der Überzeugung, dass jedes mündige Individuum für seine Handlungen absolut selbst verantwortlich ist. Moralische Schuld entsteht bei dem Verstoß gegen Grundsätze der eigenen Überzeugung – es meldet sich dann das Gewissen als Instanz, vor dem moralische Schuld verantwortet werden muss. Die Reaktion auf moralische Schuld kann Reue und Umkehr sowie die Bitte um die Verzeihung sein. Moralische Schuld können wir z.B. durch abwertendes oder unwahrhaftiges Verhalten unserer Umwelt gegenüber auf uns laden. Da moralische Schuld vom je eigenen Gewissen abhängt, ist eine allgemeinverbindliche Zuschreibung nicht möglich.
- Metaphysische Schuld: Dieser vielleicht am schwersten zu fassende Schuldbegriff bedeutet nach Jaspers einen Verstoß gegen die von ihm postulierte Solidarität der Menschen untereinander qua Menschsein und drückt sich in einem Schuldgefühl dafür aus, weiter zu leben angesichts unaussprechlicher Gräuel gegen die Menschlichkeit und eingedenk der Tatsache, nicht alles für die Verhinderung derselben – und sei es der Einsatz des eigenen Lebens – getan zu haben. Als Instanz, vor der diese Form von Schuld verantwortet werden muss, nennt Jaspers Gott, allerdings lässt sich diese Form der Schuld auch säkular z.B. als Verantwortung gegen die Menschheit verstehen. Reaktion auf das Verspüren solcher Schuld kann eine Veränderung des Selbstverständnisses, eine Verschiebung eigener Gewichtungen, eine Neuordnung des eigenen Wertekosmos sein. Beispielsweise kann der Besuch eines ehemaligen KZs einen Eindruck solcher Schuld vermitteln. Die Kategorie des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“, die vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Rolle spielt, ist der Japsers‘schen metaphysischen Schuld vergleichbar.
Nach dem Krieg waren es solche, beinahe schon formalen Überlegungen wie die von Jaspers, die ja letztlich „nur“ eine begriffliche und inhaltliche Differenzierung und Klärung darstellen, die so manche allzu billigen Entschuldungsversuche ad absurdum geführt haben – und die beispielsweise auch eine Bewertung der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach dem zweiten Weltkrieg durch die Siegermächte in den Nürnberger Prozessen, eine Bewertung des Jerusalemer Prozesses gegen Adolf Eichmann und der Frankfurter Auschwitz-Prozesse möglich machen.
Doch neben dem methodischen Nutzen, der quasi der Minimalkonsens des philosophischen Nutzens darstellt, vertreten eine ganze Reihe von Denkern auch die These von einem inhaltlicher Nutzen der Philosophie: Gesellschaftskritik, die in Überlegungen über eine Weiterentwicklung der Gesellschaft mündet, in Überlegungen, welche Form der Gesellschaft wünschenswert ist oder nicht, welche gut ist und welche nicht, ist ein Kernelement von engagierter Philosophie, die sich nicht in den abstrakt-logischen Elfenbeinturm zurückzieht, sondern die menschliche Praxis gleichzeitig als Ziel und Grund von philosophischen Überlegungen ansieht. Viele Philosophen, darunter alle der hier erwähnten (also auch Karl Jaspers – dass seine Differenzierung der Schuldbegriffe hier als Beispiel für das kleine Modell des gesellschaftlichen Nutzens der Philosophie herangezogen wurde, heisst nicht, dass Jaspers nur in dieser Dimension den Nutzen der Philosophie sehen würde), verstehen ihr Philosophieren nicht nur als denkerische Fingerübung und begriffliche Differenzierung – so wichtig dies beides auch sein mag –, sondern primär als gesellschaftliches Engagement, als Suchen nach Elementen einer gerechten Gesellschaft, als Versuch, durch ihr Denken und Publizieren einen Beitrag zum Verständnis des gegenwärtigen Lebens in der Welt, zum Verständnis der Entstehung und Einordnung von Konflikten zu leisten. Sie sehen das Ziel und oft auch die Rechtfertigung ihres Tuns in der Suche nach einem Beitrag zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf der Welt. Das Buch, dessen Titel auch Titel dieser Veranstaltung ist (vgl. Jürgen Habermas, Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori. Darmstadt 2004), kann als Dokument eines Philosophierens aus diesem Geiste angesehen werden.
Die Gespräche mit Jürgen Habermas (* 1929) und Jacques Derrida (1930-2004) in dem genannten Buch sind Beispiele dafür, wozu Philosophie in Zeiten des Terror – und, nebenbei bemerkt, natürlich auch in anderen Zeiten – dienlich sein kann, nämlich dafür, einen Beitrag zur alltäglichen Weltorientierung (dieser Begriff wurde von Jaspers geprägt) zu leisten. In den beiden Gesprächen geht es in weiten Teilen darum, überhaupt erst einmal zu verstehen, was am 11.9.2001 passiert ist, und ob und wie dieses Geschehen unser Leben verändert hat, bzw. aus damaliger Perspektive – die Gespräche wurden ja kurz nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center geführt: Welche Veränderungen des täglichen Lebens zu erwarten, zu erhoffen oder zu befürchten waren.
Habermas interessiert vor allem die Frage nach den Gründen für Terrorismus und nach der Einordnung der Anschläge vom 11.9.2001 in ein Schema des Terrorismus. Das Ziel, das er mit der Suche nach Antworten auf diese Fragen verfolgt, besteht darin, für gesellschaftliche Veränderungen werben zu können, die eine insgesamt gerechteres, für alle zufriedenstellendes Leben ermöglichen.
So unterscheidet Habermas drei verschiedene Formen einer Rahmung von Terror entsprechend des Vorhandenseins oder Fehlens einer politischer Zielsetzung – wobei man davon ausgehen kann, dass Klassifizierung für Habermas überhaupt nichts bzgl. der Legitimität von Terror egal welcher Form bedeutet. Grundsätzlich lehnt Habermas alle Formen der gewalttätigen Auseinandersetzungen im politischen wie im nicht-politischen Bereich strikt ab und setzt dem seine Theorie des kommunikativen Handelns (vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. Frankfurt/Main 1981) entgegen. Habermas unterscheidet also folgende drei Formen des Terror, wobei der Übergang zwischen diesen Formen fließend ist und einzelne Gruppierungen auch nicht immer eindeutig in dieses Schema eingeordnet werden können:
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Terroristische Aktionen können im Rahmen eines „paramilitärischern Partisanenkampfes“ als Mittel zur Umsetzung von erreichbar scheinenden und in gewissem Sinne realisierbaren politischen Zielen eingesetzt werden; solche Ziele können die Schaffung eines neuen Staats (z.B. bei der PKK, die für die Errichtung eines kurdischen Staates kämpft) oder die Erlangung eines Status von großer Autonomie sein (z.B. bei der IRA in Nordirland oder der ETA im Baskenland). Die Angriffe richten sich in der Regel gegen Personen oder Institutionen, die als Vertreter der abgelehnten politischen Macht gesehen werden (z.B. Kasernen, Polizeistationen, Gerichte). Da es den Gruppierungen, die vor dem Hintergrund konkreter politischer Ziele Anschläge verüben, um eine zumindest prinzipiell realisierbare Sache geht, ist grundsätzlich eine Umwandlung des Partisanenkampfes in einen echten politischen Prozess möglich – wie z.B. in Nordirland geschehen, wo sich die Partei „Sinn Fein“, die historisch und ideologische eng mit der IRA verbunden ist, mittlerweile als politische Partei etabliert und von Gewalt losgesagt hat. Parallel dazu hat die IRA den bewaffneten Kampf um mehr Autonomie für Nordirland 2005 für beendet erklärt. Das Ende des von dieser prominenten Gruppierung ausgehenden Terrors ist ein gutes Beispiel dafür, unter welchen Bedingungen eine Befriedung eines zeitweilig unlösbar scheinenden Konfliktes möglich ist – letztlich auf der Basis einer beidseitig nie komplett abgerissenen Kommunikations- und Verhandlungsbereitschaft, die getrieben war und ist von konkreten politischen Zielen.
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Eine weitere Form des Terrors sieht Habermas in einem Guerilliakampf, wie ihn z.B. gewaltbereite Palästinenser praktizieren in ihrem terroristischen Kampf gegen alles das, was sie mit dem Staat Israel assoziieren. Ein solcher Guerilliakampf zeichnet sich weniger dadurch aus, dass er für etwas geführt wird, sondern gegen etwas: Die Existenzberechtigung Israels wird verneint, alle Juden werden als Feinde betrachtet. Soweit man hier von politischen Zielen noch sprechen kann, sind sie völlig unrealistisch, dementsprechend fehlt terroristischen Aktionen auch zunehmend eine strategische Bedeutung für die Umsetzung der politischen Ziele – was insbesondere heißt, dass Opfer immer weniger nach ihrer Bedeutung für das bekämpfte System ausgesucht werden, sondern mehr nach dem zu erwartenden Maß an Aufmerksamkeit und Schrecken. Die wiederholten Anschläge auf israelische Zivilisten und zivile Einrichtungen, die schließlich zur jüngsten Eskalation der gewalttätigen Auseinandersetzung um den Gazastreifen geführt haben, zeigen dies deutlich. Das Problem für einen säkular und rechtstaatlich veranlagten Staat bezüglich des Umgangs mit dieser Form von Terror besteht darin, dass sich aufgrund der unrealistischen politischen Forderungen allein der Gedanke an eine Verhandlung über diese Forderungen oft erübrigt.
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Schließlich nennt Habermas als dritte Form des Terrors den globaler Terrorismus, dem man insbesondere das Terrornetzwerk al-Qaida zurechnen muss, das vor allem 1993 bis 2010 mit Anschlägen rund um den Globus von sich Reden hat machen. Positive politische Ziele sind bei dieser Gruppierung nahezu gar nicht mehr auszumachen. Der Zusammenhalt von al-Qaida wird durch insbesondere durch die Idee gestiftet, den Islam als einzige Weltherrschaft zu installieren und alle Andersgläubigen auszuschalten. Vermunden damit werden die Operationen von al-Qaida von einem gemeinsamen Feindbild getrieben, das am westlichen, US-amerikanischen Lebensstil orientiert ist und begleitet wird von einem vor allem am Jenseits orientierten, fundamentalistisch-religiösen Extremismus. Die Globalisierung dieser Form des Terrorismus wird letztlich vor allem durch das, was als Feindbild bekämpft wird, möglich: Ohne die Errungenschaften der modernen Technik, ohne die weltweiten Netze als manifeste Ausgeburt des bekämpften westlichen Lebensstils wäre die komplexe und weltumspannende Organisation und der Erfolg von al-Qaida nicht möglich geworden. So ist zu konstatieren, dass der globale Terrorismus genau durch das möglich wird, was er selbst in seinen terroristischen Aktionen zu vernichten sucht: Die Anschläge richten sich gegen Symbole und typische Erscheinungsformen des bekämpften Lebensstils, wobei sie sich effekthascherisch die Anfälligkeit dieser hochkomplexen Systeme zu nutze machen, um mit vergleichsweise geringem Aufwand große Wirkung zu erzielen (und dabei teilweise absurde Superlative suchen, wie bei den vereitelten Anschlägen auf sieben Passagierflugzeuge, die zeitgleich in der Luft gesprengt werden sollten und mit einer erwarteten Opferzahl von 3200 Menschenleben die Zahl der Toten der Anschläge vom 11.9.2001 in New York übertreffen sollten). Die Tatsache, dass die Anschläge des globalen Terrorismus im wahren Wortsinne immer selbstmörderischer werden, macht es immer schwerer, sie zu verhindern und zeigt auch deutlich, dass diesseitige politische Ziele immer weniger bis gar nicht relevant sind. Das Perfide am globalen Terrorismus ist zudem neben der menschenverachtenden Grausamkeit seiner Taten, dass die sich bedroht wähnenden Staaten bei steigendem terroristischem Druck immer mehr dazu geneigt sind, tatsächlich die Werte, gegen die sich der globale Terrorismus wendet, freiwillig durch restriktive und freiheitsbeschneidende Gesetzgebung aufzugeben. Dieses lässt sich an der Welle der sogenannten „Verschärfungen“ der Gesetze zur Wahrung der sogenannten „inneren Sicherheit“ festmachen, die nach den Anschlägen vom 11.9.2001 in der westlichen Welt zu beobachten waren.
Allen diesen Formen von Terrorismus ist nach Habermas gemeinsam, dass sie ihren Ursprung in einer Situation habe, in der ein rationaler und kommunikativer Ausgleich von Interessen nicht mehr funktioniert und nicht mehr gesucht wird. In diesem Sinne deutet er Terrorismus als Kommunikationsproblem, als eine „kommunikative Pathologie“. Insbesondere bei der Form des globalen Terrorismus ist es fraglich, ob es da überhaupt noch etwas zu sagen, etwas zu kommunizieren gibt – oder ob nicht vielmehr die Basis jeglicher Kommunikation, nämlich dass es einen Austausch von prinzipiell gleichwertigen Kommunikationspartnern über prinzipiell Kommunizierbares verlassen ist. Diese Basis besteht in der mehr oder weniger reflektierten und expliziter Über- und Annahme von gesellschaftlichen Hintergrundüberzeugungen, besteht in einem Commitment für die gesellschaftlich allgemein akzeptierten Grundregeln des Zusammenlebens, konkret: eine (Selbst-)Unterwerfung unter die freiheitlich-demokratische Grundordnung der westlichen Welt. Diese gemeinsame Basis an Überzeugungen (und Erlebnissen), diese Partizipation an einer – bis zu gewissen Grenzen – gemeinsamen Lebenswelt ermöglicht eine gegenseitige Perspektivübernahme, die die Voraussetzung für einen auszuhandelnden Konsens in der Gesellschaft ist. Die Möglichkeit der Perspektivübernahme ist die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs Kants, der die sittliche Basis von Habermas‘ Denken bildet:
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Immanuel Kant: AA V, 30 = KpV A 54, §7)
Ohne das Verständnis des Individuums als eines kommunikationsfähigen und kommunikationswilligen, vernünftigen Subjekts, das rationaler Argumentation fähig, zugänglich und dazu bereit ist, das schließlich sich selbst allen anderen Subjekten gleichwertig erachtet, sich also weder unter-, noch überordnet – ohne diese Voraussetzungen, die nicht vom Himmel fallen und deren Realisierung eine der vornehmsten gesellschaftlichen Aufgaben ist, bzw. sein sollte, ist nach Habermas ein demokratisches Gemeinwesen nicht denkbar. Die Negation der Existenzberechtigung einer ethnischen, kulturellen, nationalen und/oder religiösen Gruppe, die in vielen Fällen des globalen Terrorismus anzutreffen ist, macht die Chance auf die Bildung einer gemeinsamen Kommunikationsbasis von Vornhinein zunichte.
Bei Jacques Derrida findet man eine etwas andere philosophische Herangehensweise an das Phänomen der Anschläge vom 11.9.2001. Angeregt durch die Bezeichnung dieser Anschläge von Borradori als „major event“ geht er erst einmal der Frage nach, was überhaupt das besondere an den Anschlägen auf das World-Trade-Center ist – nicht ohne darauf hinzuweisen,wie unterschiedlich Wahrnehmung und Bewertung von z.T. massenhaften Todesfällen durch die westliche Welt ist; natürlich sticht allein die Zahl der Menschen, die infolge der Anschläge den Tod gefunden haben, heraus – man spricht von etwa 3000 Toten. Allerdings, so Derrida, können allein diese Zahl nicht rechtfertigen, von einer neuen Qualität des Terror oder gar einer Zeitenwende zu sprechen. Insbesondere – so gibt Derrida zu bedenken – sei der Anschlag nicht komplett unerwartet gekommen: Spätestens seit dem ebenfalls von Al-Quaida verübten Bombenanschlag auf das World-Trace-Center vom 26.2.1993 sei ja bekannt gewesen, dass das World Trade Center ein potentielles Ziel von Anschlägen sei. In jüngster Zeit ist das Messen mit solcherlei unterschiedlichem Maß noch einmal deutlich geworden im Vergleich der öffentlichen Wahrnehmung des Anschlags auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris am 7.1.2015, der 12 Menschenleben gefordert hat, mit der Reaktion auf den Anschlag auf einen ukrainischen Linienbus nahe Donezk am 13.1.2015, bei dem 11-15 Menschen starben – die genannte Zahl der Toten variiert je nach konsultierter Quelle –, der aber kein besonders großes Medienecho hervorgerufen hat. Generell muss man konstatieren, dass in kriegerischen Auseinandersetzungen wie z.B. derjenigen, die gerade in der Ostukraine, in Afrika oder im nahen Osten stattfinden, tagtäglich Duzende Menschen sterben und grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden, ohne dass das den großen Medien eine Schlagzeile wert wäre: Wenn man beispielsweise die Chronik des von Boko Haram verübten Terrors der letzten Monate Revue passieren lässt, muss man feststellen, dass kaum eine Woche vergangen ist, in der nicht mindestens ein Dutzend Menschen gestorben sind.
Nun mag man einwenden, dass z.B. der ukrainische Linienbus in einem Kriegsgebiet unterwegs gewesen und es von daher nicht derart überraschend gewesen sei, dass die Opfer als „Kollateralschaden“ zu beklagen seien – aber, so kann man fragen, gilt dies nicht auch für die Anschläge auf das World-Trade-Center?
Bei der Einordnung von mörderischen Geschehnissen kommt man heutzutage nicht mehr umhin zu Hinterfragen, wie diese Ereignisse zu dem gemacht werden, als was sie wahrgenommen werden. Und dabei gilt sicherlich: Je direkter solche Ereignisse nach- und sogar miterlebbar sind, desto ereignishafter und Betroffenheit erzeugender werden sie eingeschätzt: Der Einsturz der beiden Türme des WTC wurde stundenlang live übertragen, rund um den Globus haben Menschen den Augenblick miterlebt, in dem hunderte von Menschen beim Einsturz der Türme starben.Und auch die Berichterstattung des Anschlags auf die Redaktion von Charlie Hebdo war dadurch geprägt, dass auf verwackelten Handyfilmen das Sterben der Menschen nacherlebt werden konnte und musste. Der Versuch von Petro Poroschenko, dem Präsidenten der Ukraine, auch den Anschlag auf den Bus nahe Donezk dadurch zum Ereignis zu machen, dass er ein durchlöchertes Stück Blech eben dieses Busses während seiner Rede auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos am 21.1.2015 präsentierte, muss wohl eher als gescheitert gelten – durchlöchertes Blech „thrillt“ die Weltgemeinschaft nicht mehr.
Das Element des Schockens und der Traumatisierung sind wesentlich für die Heraushebung der Anschläge vom 11.9.2001 – wobei die teilweise hilflose und kommentarlose Übertragung der Bilder mit zu einer medialen Monumentarisierung beigetragen haben und insbesondere den Eindruck zu erwecken geeignet sind, dass sich ein solches Ereignis jederzeit und überall wiederholen kann, mithin noch gar nicht abgeschlossen ist.
Das hilflose Übersichergehenlassenmüssen eines schrecklichen Erlebnisses, das die normalen menschlichen Verarbeitungs- und Schutzmechanismen außer Kraft setzt, ist die Voraussetzung für eine Traumatisierung. Auf Wikipedia findet man zum Stichwort „Psychotrauma“:
„Ein Psychotrauma ist eine seelische Wunde, die auf einzelne oder mehrere Ereignisse zurückgeht, bei denen im Zustand von extremer Angst und Hilflosigkeit die Verarbeitungsmöglichkeiten des Individuums überfordert waren. Solch ein traumatisierendes Ereignis führt bei etwa 20 % der Betroffenen zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Posttraumatische Belastungsstörungen sind ein lange bekanntes und gut beschriebenes Krankheitsbild. Diagnostiziert wird die posttraumatische Belastungsstörung jedoch erst seit 1980, mit ihrer Aufnahme in die 3. Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen (DSM).
Die drei diagnostischen Kriterien sind:
* Einbrüche von Trauma-Material in den Alltag (Intrusionen),
* Vermeidung (Avoidance) und
* Übererregung (Hyperarousal).“ (Wikipedia, Artikel „Psychotraumatologie“, http://de.wikipedia.org/wiki/Psychotraumatologie, aufgerufen am 31.1.2015)
Auf der Basis von Derridas Überlegungen trifft man vermutlich mit dem Begriff der „posttraumatischen Belastungsstörung“ die Verfassung der US-amerikanischen und – in etwas abgeschwächter Form – auch den Zustand des Rests der westlichen orientierten Gesellschaft recht gut.
Ein wesentliches Ziel bei der Traumatherapie besteht darin, das traumatische Erlebnis als vergangenes und abgeschlossenes Erlebnis bewusst werden zu lassen. Traumatherapie verfolgt nicht das Ziel einer Verharmlosung (nach dem Motto: „Das war doch gar nicht so schlimm.“), es geht vielmehr darum, Vergangenes als vergangen zu leben: „Es war schlimm – und es ist vorbei.“
Im Falle der Anschläge vom 11.9.2001 bedeutet dieses „es ist vorbei“, dass wir nicht jeden Moment damit rechnen müssen, Ziel eines terroristischen Anschlags zu werden. Die Attentate vom 11.9.2001 sind vorbei – auch wenn sie bei manchen Menschen sicherlich Verluste verursacht haben, die niemals vergessen oder ausgeglichen werden können. „Es ist vorbei“ bedeutet gerade nicht „es ist vergessen“ oder „es ist nie geschehen“ – unter anderem in Deutschland ist es immer wieder wichtig, darauf hinzuweisen. Lehren aus der Vergangenheit können nur dann gezogen werden, wenn das Vergangene als Vergangenes erlebt und akzeptiert – und gleichzeitig nicht vergessen wird. Es stellt sich dann für das Individuum wie für die gesamte Gesellschaft die Frage, wie das Leben nach traumatischen Ereignissen und Erlebnissen wie z.B. den Attentaten auf das WTC weitergehen kann.
Nicht zuletzt spielt diesbezüglich auch die Frage, wie mit dem Fremden umzugehen ist, eine wichtige Rolle. Habermas und Derrida haben hier unterschiedliche Vorstellungen:
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Habermas plädiert für eine ausgehandelte Toleranz zwischen allen Mitgliedern einer Gesellschaft – also den Einheimischen und den Fremden. Dabei geben die Einheimischen erst einmal die Grenzen der Toleranz vor, allerdings – so das Ideal – werden die Fremden immer mehr zu Einheimischen und damit zu Gleichen, die bei der Aushandlung der Toleranzgrenzen gleichberechtigt mitreden können.
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Derrida dagegen versteht Toleranz als eine Art Diktat: Es gibt eine gesellschaftliche Gruppe, die toleriert und dabei die Grenzen der Toleranz vorgibt, eine andere Gruppe wird toleriert und kann sich innerhalb der vorgegeben Grenzen entfalten – aber eben auch nur innerhalb dieser Grenzen. Als Ideal des Umgangs mit Fremdem lehnt Derrida das Modell der Toleranz deshalb ab. Sein Ideal in diesem Zusammenhang basiert auf der Idee der Gastfreundschaft: Der Gast hat als Gast alle Rechte, ihm werden keine Grenzen gesetzt. Derrida ist sich wohl bewusst, dass dieses Ideal riskant ist, da die gewährte Gastfreundschaft missbraucht werden kann.
Habermas und Derrida kommen am Schluss ihrer Überlegungen zu einem vergleichbaren Schluss: In der zusammenwachsenden Welt von heute kann nur eine Stärkung der internationalen gesellschaftlichen Kommunikationsfähigkeit – individuell und institutionell – die Schreckgespenster Nationalismus und Terrorismus vertreiben. Erforderlich sind starke internationale Institutionen – gestärkt und getragen von Staaten, die sich bereitwillig den von diesen selbstgeschaffenen Institutionen ausgearbeiteten Regelungen unterwerfen und diesen dadurch Glaubwürdigkeit und Anerkennung verschaffen. Dass dabei immer das Risiko besteht, dass die Staaten, die sich dann an solche Regelungen gebunden fühlen, zumindest kurzfristig in bestimmten Situationen schlechter dastehen können als Staaten, die sich nach Gutdünken über solche Regelungen hinweg setzen, liegt auf der Hand – auch darin besteht das Risiko, sich selbst bestimmten Regelungen zu unterwerfen. Die Hoffnung besteht darin, dass langfristig einzelne Staaten und die gesamte Gesellschaft den zu ihnen gehörenden Menschen unter Wahrung dieses Prinzip größere Chancen auf ein lebenswertes und erfülltes Leben bieten können als ohne Partizipation an einer solchen verfassten Weltgemeinschaft.
Diese nun etwas länglich ausgefallene Darstellung des zweiten Nutzenaspekts von Philosophie, nämlich der inhaltliche Nutzen, der vor allem in Gesellschaftskritik besteht, soll diese Skizze abschließen. Ziel war nicht, Positionen einzelner Philosophen (von Jaspers, Habermas, Derrida oder anderen) umfassend darzustellen – und soweit hier Positionen dargestellt wurden, ist diese Darstellung eine Interpretation und diskussionswürdig bzgl. der Frage, ob die einzelnen Positionen wirklich korrekt wiedergegeben wurden. Wenn die vorgetragenen Überlegungen deutlich machen konnten, dass Philosophie angesichts des Terrors – und allgemeiner: dass Philosophie in unserer modernen Zeit zur Orientierung im Leben hilfreiche Gedanken und Anregungen beisteuern kann, dann hat sich mein Vortrag und Ihr Zuhören gelohnt.
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